Pohrt lesen Da zuletzt aus gegebenem Anlass der Name Wolfgang Pohrt (1945-2018) und seine Kritik am (linken) Antisemitismus immer wieder fällt, habe ich mal wieder reingeschaut. Nicht in die Polemiken und Kritiken aus den achtziger und frühen neunziger Jahren, auf die seine heutigen Fans gerne verweisen, sondern ins spärliche Spätwerk. Dazu eine Geschichte, an die sich alle erinnern werden, die an diesem Abend vor ziemlich genau 20 Jahren dabei waren - und dem Klaus Bittermann in seiner sehr lesenswerten Pohrt-Biographie (2022) unter dem Titel ¥Das Desaster im Tempodrom“ ein ganzes Kapitel widmet. Damals, im Oktober 2003, lud das – nicht zuletzt als Reaktion auf die Auswirkungen der zweiten Intifada entstandene – ¥Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus“ Wolfgang Pohrt und Henryk M. Broder zu einer Podiumsdiskussion unter dem Titel ¥Deutschland verraten“ ein. Das Publikum gehörte größtenteils demselben Milieu an wie die Veranstalter, der Berliner Linken nämlich, und spendete viel Beifall für Broder, der bei dieser Gelegenheit Pohrt seinen Respekt zollte und sagte, er habe sehr viel von ihm gelernt. Ganz anders die Reaktionen auf den aus Stuttgart angereisten Pohrt. Es war sein erster öffentlicher Auftritt nach vielen Jahren, und seine anwesenden Fans, von denen viele erst zu welchen geworden waren, nachdem Pohrt ab Mitte der neunziger Jahre kaum noch publiziert hatte, waren enttäuscht, gar verärgert. Wenn mich die Erinnerung nicht trügt, waren auch die Freunde, mit denen ich diese Veranstaltung besuchte, enttäuscht - und fast genauso belustigt. Denn die Konstellation war interessant: Pohrt war ¥Antideutscher“, als es noch keine ¥Antideutschen“ gab. Heute, weitere 20 Jahre später, existiert dieser Begriff fast nur noch als Fremdzuschreibung. 2003 war das anders. Aber damals, als es die ¥Antideutschen“ gab, es also eine hinreichende Anhängerschaft gegeben hätte, die bereit gewesen wäre, Pohrt zu bewundern und zu bejubeln, schlug er das aus. Einfach so. Bloß die Attitüde des kritischen Kritikers? Einer, der sich erst an seinen Provokationen erfreut hatte und es nun genoss, jene zu provozieren, die seine Provokationen gefeiert hatten? Doch das wollte nicht so recht dem Bild passen, das mir aus dem Abendessen nach der Veranstaltung im Gedächtnis geblieben ist: ein großer Tisch in einem Kreuzberger Restaurant, an dessen Ende Pohrt saß. Weder wollte er erläutern, warum er seine Fans enttäuscht hatte, noch schien er Freude über eine gelungene Provokation zu verspüren. Er saß bloß still da, aß sein Abendessen und schien darauf zu warten, endlich nach Hause gehen zu können. (Klaus Bittermann, Doris Akrap, Thomas Blum, andere: Korrigiert mich bitte, falls mir die Erinnerung einen Streich spielt.) Vielleicht war es auch viel einfacher: Vielleicht schrieb Pohrt nur stets das, was er zur jeweiligen Zeit für richtig hielt, ohne viel auf die Wirkung seiner Texte zu achten. Was aber sagte er, was damals in diesem kleinen Milieu als so provokant aufgefasst wurde – und heute womöglich noch für viel mehr Widerspruch sorgen würde? Nachfolgend eine Passage aus dem Vortrag, den er an jenem Abend hielt und zuvor eine Stelle aus dem Vorwort zum Band ¥FAQ“, worin dieser Vortrag erstmals abgedruckt wurde (inzwischen auch Pohrt Werke Bd. 9, beides erschienen bei Edition Tiamat): ¥Manche Leute freut es, wenn sie von sich behaupten können, sie hätten es schon immer gesagt. Mir geht es weniger um die Ewigkeit als den richtigen Zeitpunkt. Deshalb gefällt es mir, dass ein umfangreicher Teil meines 1992 erschienenen Buches ‚Das Jahr danach‘ die Ausländerverfolgung anprangert. Und aus dem gleichen Grund wäre es mir nicht angenehm, wenn dieser Text jetzt wieder erschiene, wo sein Charakter der eines Mit-den-Wölfen-Heulens wäre. Die Wahrheit hat, wie Adorno bemerkte, einen Zeitkern. Gar nicht zu reden von den Irrtümern. Wer 30 Jahre im Geschäft ist – mein erster Artikel erschien 1974 im ‚Kursbuch‘ – blickt auf eine Menge davon zurück. Und manche ärgern mich, vor allem dann, wenn sie geholfen haben, dieses komische Antideutschtum mit Argumenten zu versorgen, das sich heute als ideologische Schutzmacht der USA aufspielt.“ ¥Gestehen muss ich folglich, dass ich derzeit nicht in der Lage bin, irgend etwas hervorstechend Fremdenfeindliches oder Antisemitisches zu erkennen, das aus der Tiefe der deutschen Seel kommen und sich dort aus ergiebigen Quellen speisen würde. Irgendwo wurden mal Walser/Reich-Ranicki und Möllemann/Friedman erwähnt. Ich halte das für läppisch. Andere Dinge sind weitaus ernster. Ein ständiges Ärgernis sind die Nachrichtensprecher, die stets von Angriffen israelischer Soldaten auf palästinensische Flüchtlingslager sprechen, wenn das Ziel der Angriffe eine Ortschaft war, wo vor 50 Jahren vielleicht mal die Zelten und Baracken eines Flüchtlingslagers standen. (…) Aber soweit ich informiert bin, ist diese Nachrichtengebung ein EU-weites Phänomen, und einziger Verursacher sind die Medien. Weder kommt sie aus der Bevölkerung, noch wirkt sie besonders stark auf sie ein. (...) Wie gesagt, ich kann derzeit nichts erkennen, was mit Macht aus den Tiefen der deutschen Seel dringt. Ich sehe nicht einmal eine Tiefe, ich sehe eine Leere. Befürchtungen – auch meine – die deutsche Geschichte könne sich wiederholen, haben sich bislang nicht bestätigt. Eher kam es umgekehrt. (…) Was sind die Themen, die das Land bewegen? Die Rente, der Zahnersatz und das Dosenpfand. Ich könnte Ihnen jede Menge weiterer Gründe dafür nennen, warum der Antisemitismus alten Schlags nicht wiederkommt. (…) Nun könnte man freilich fragen: Wenn so etwas ausgeschlossen ist, was kommt stattdessen? Bis man es besser weiß, könnte man ja mal in europäischen Dimensionen denken. Vielleicht ist der Balkan unser Schicksal dergestalt, dass der Jugoslawienkrieg das Vorbild liefert für eine künftige EU-Entflechtung. Ich glaube freilich nicht daran. Wenn es hier wieder kracht, ist das bloß Zoff im Altersheim.“ (Was Pohrt 2003 für seine zehn Jahre und mehr zurückliegenden Texte mit Adorno in Anspruch nahm, der ¥Zeitkern“ von Erkenntnis nämlich, gilt natürlich auch für diesen Text. Interessant ist die Relektüre trotzdem. Finde ich jedenfalls.
Text- und Bildquelle: Facebook. Herausgegeben von Deniz Yücel auf Facebook. Haftungsausschluss!
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